50 shades of brain > 8 Das Barr-Körperchen

Was hat BARR, der Entdecker des Sex-Chromatins in diesem Buch verloren? Ganz einfach: Barr war selbst Neuroanatom – und entdeckte das inaktive Sexchromatin zuerst in einer Nervenzelle… Somit gehört auch das Barrkörperchen in jede Nervenzelle, in jedes Gehirn genauso wie die Nisslschollen.

Welche Beziehungen habe ich zum Barr Body? Gar keine. Genetik gehört nicht unbedingt zu meinen Favoriten. Nicht weil ich die Genetik uninteressant oder langweilig fände, sondern ausschließlich deswegen, weil man seine Interessensgebiete – und seien sie noch so weit gefächert – schon irgendwie fokussieren muss.

Bei meinen Recherchen habe ich aber das Barr Body kennen, schätzen und lieben gelernt und freue mich, dass ich – keins habe – sonst wäre ich ja eine Frau…

Zwar die Natur bedeckt dein hartes Land mit Steinen,
Allein dein Pflug geht durch, und deine Saat errinnt;
Sie warf die Alpen auf, dich von der Welt zu zäunen,
Weil sich die Menschen selbst die größten Plagen sind;
Dein Trank ist reine Flut und Milch die reichsten Speisen,
Doch Lust und Hunger legt auch Eicheln Würze zu;
Der Berge tiefer Schacht gibt dir nur schwirrend Eisen,
Wie sehr wünscht Peru nicht, so arm zu sein als du!
Dann, wo die Freiheit herrscht, wird alle Mühe minder,
Die Felsen selbst beblümt und Boreas gelinder.

8 Das Barr-Körperchen

Quelle:

Das Barr-Körperchen (Barr-Kernkörperchen, engl. Barr Body)

Beim Barr Body handelt es sich um ein Geschlechtschromatin („Sex-Chromatin“, „X-Chromatin“), das aus einem funktionell weitgehend inaktiven X-Chromosom besteht. Es ist hetero-chromatinisiert und wird dadurch nachweisbar (X-Inaktivierung). Es tritt nur bei Frauen auf.

Hintergrund & Insiderwissen

Frauen besitzen normalerweise zwei X-Chromosomen, von denen nur eines aktiv ist; das andere wird inaktiviert („abgeschaltet“) und ist dann in vielen Zellen als Barr-Körperchen nachweisbar. Männer haben neben dem Y-Chromosom nur ein X-Chromosom und daher kein Barr-Körperchen. Obwohl ein inaktives X-Chromosom in allen normalen weiblichen Zellen vorhanden ist, lässt sich das Barr-Körperchen nicht in allen Zelltypen und Zellzyklus-Stadien gleich gut nachweisen.

Die erste Beschreibung erfolgte 1949 durch M. L. Barr & E. G. Bertram (keine Daten erhältlich…), ohne dass zunächst die Ursachen bekannt waren. Die englische Genetikerin Mary Frances Lyon (1925-2014) veröffentlichte Anfang der 1960er Jahre die später nach ihr benannte Lyon-Hypothese, dass eines der X-Chromosomen in jeder Zelle inaktiviert wird. Dies geschieht etwa nach ca 2-3 Wochen der Embryogenese des Menschen. Sie prägte auch den Begriff Barr body.

Wird bei einer Frau kein Barr-Körperchen gefunden, kann es entweder sein, dass ein X- und ein Y-Chromosom vorhanden ist wie bei Männern, dass aber auf dem Y-Chromosom das „Männlichkeits“-Gen verlorengegangen ist. Oder die Frau besitzt nur ein X-Chromosom (Genotyp X0; TurnerSyndrom*). Besitzt eine Frau mehr als einen Barr-Körper, so spricht man vom Tripel-X-Syndrom oder auch vom Poly-X-Syndrom. Es gibt jedoch auch Männer mit einem oder mehreren Barr-Körperchen (Klinefelter-Syndrom*; XXY, XXXY).

Der sog. Barr-Test, bei dem Haare, Schleimhaut oder Blut verwendet werden können, gehörte eine Zeitlang bei großen Sportwettkämpfen zum Pflichtprogramm der medizinischen Untersuchungen der Teilnehmer. Er ersetzte bei den Olympischen Spielen 1968 die vorher übliche „optische Untersuchung“, nachdem die Sportler diese als entwürdigend kritisiert hatten. Diese wurde Mitte der 1950er Jahre eingeführt, nachdem bekannt wurde, dass der deutsche Athlet Heinrich Ratjen bei den Olympischen Spielen 1936 aufgrund seiner Lebensumstände noch als Frau mit dem Namen Dora Ratjen am Hochsprung teilgenommen hatte…

Murray Llewellyn Barr

(* 20. Juni 1908 in Belmont (Ontario); † 4. Mai 1995 in London (Ontario)

war ein kanadischer Arzt, Anatom und Histologe des 20. JH.

Er ist der Entdecker des Geschlechtschromatins.

Murray Llewellyn Barr, Quelle:

Biographisches

Barr, Enkel nordirischer Einwanderer, studierte ab 1920 an der University of Western Ontario und schloss dort 1930 mit dem Bachelor of Arts (B.A.) ab. Der M.D. folgte 1933 und der Master of Science 1938. Nach der Promotion zum M.D. arbeitete er zunächst zwei Jahre als Allgemeinarzt bevor er 1936 an die Universität als Dozent („Instructor“) für Anatomie zurückkehrte, wo er sich auf dem Gebiet der Neuroanatomie spezialisieren wollte. Das wurde vom Wehrdienst im II. Weltkrieg ab 1939 unterbrochen. 1951 wurde er Professor für Anatomie an „seiner“ Universität. Anfangs beschäftigte er sich noch neuro-anatomisch (u.a. mit der Verteilung von Synapsen im RM), später mit Geschlechtschromosomen.

University of Western Ontario; Quelle:

1948 entdeckte er mit seinem Studenten Ewart George Bertram (* 1923, über ihn findet man praktisch nichts, ob er überhaupt noch lebt?) die heute nach ihm benannten Barr-Körperchen, inaktivierte X-Chromosomen bei Frauen, und damit zusammenhängend das Geschlechts-Chromatin. Die Entdeckung gelang, als Barr der ganz anderen Fragestellung nachging, inwieweit vermehrte neuronale Aktivität von Zellen diese strukturell ändert.

Wissenschaftliches Werk

Barr schrieb ein in angelsächsischen Ländern verbreitetes Lehrbuch der Neuroanatomie. Die Zytologie des Nervensystems war eines seiner Forschungsschwerpunkte.

Er befasste sich aber auch mit der Genetik geistiger Behinderung, wofür er 1962 den Joseph P. Kennedy Junior Award (dabei handelt es sich, Sie werden es sich schon gedacht haben – um den Bruder unseres JFK…) erhielt. In diesem Bereich ist das Barr-Shaver-Carr-Syndrom nach ihm und David H. Carr (1921-2012) und Evelyn Louise Shaver (1906-?) benannt und das Carr-Barr-Plunkett Syndrom (benannt zusätzlich nach Earl R. Plunkett, keine weiteren Daten für unseren Earl…).

Er und sein Team entwickelten auch einen Mundschleimhautabstrich zur Untersuchung von Chromosomen-Defekten (Barr-Test), der bis heute häufig angewandt wird, unter anderem auch bei Neugeborenen.

Ab Ende der 1960er Jahre beschäftigte er sich hauptsächlich mit Medizingeschichte.

Ehrungen & Auszeichnungen

1962 erhielt er den Joseph P. Kennedy Junior Award (s.o.), 1963 den Canada Gairdner International Award. Er war Fellow der Royal Society of Canada und der Royal Society (England). 1968 wurde er Officer des Order of Canada. 1959 bekam er die Flavelle Medal der Royal Society of Canada. 1998 wurde er postum in die Canadian Medical Hall of Fame aufgenommen.

Quellen, Literatur & Veröffentlichungen

zusammen mit E. G. Bertram: A morphological distinction between neurones of the male and female and the behaviour of the nucleolar satellite during accelerated nucleoprotein synthesis (Nature. Band 163, London, 1949)

Barr´s The Human Nervous System. An Anatomical Viewpoint (zuletzt wohl 2008 erschienen…)