50 shades of brain > 22 Brown-Séquard: Das BS-Syndrom

Brown-Séquard, der Paradiesvogel unter den Ärzten, die Blaue Mauritius unter den Neurologen…

Das Brown-Séquard-Syndrom stellt wohl eines der kompliziertesten „Syndrome“ in der Neurologie dar und spiegelt damit den komplizierten Aufbau des RM wider.

Ich habe mir lange überlegt, ob ich B-S überhaupt mit aufnehmen soll in diese romantische und naive Sammlung der Hirn-Eponyme. Schließlich gibt es hunderte von neurologischen Syndromen und Krankheiten, die alle den Namen ihrer Entdecker tragen. Warum sollte da B-S eine Ausnahme sein?

Doch, er ist eine Ausnahme, weil sich „sein Syndrom“ ausschließlich auf die neurolog. Strukturen bezieht. Auch wenn er vielleicht nicht die Kreuzungsbahnen im RM entdeckt hat.

Das Besondere an der Neurologie ist die exakte topologische Zuordnung einer Schädigung. Aber: Die moderne Bildgebung (CT, MRT) erlaubt mittlerweile auch mittelmäßigeren, anatomisch nicht so bewanderten Neurologen zu einer Diagnose zu kommen…

Als ehem. Chefarzt einer der größten Abteilungen für Paraplegiologie in Deutschland habe ich höchstens eine Handvoll von Patienten mit diesem Syndrom gesehen. Umso erstaunlicher, dass B-S diesen Typus Querschnittlähmung so exakt beschreiben konnte.

Die „blaue Mauritius“ unter den Neurowissenschaftlern beschäftigte sich überwiegend mit dem RM, beschrieb die Kreuzungen dieser Bahnen, wobei er ein kompliziertes Querschnittsyndrom, das heute eben nach ihm benannt ist, aufgrund seiner exzellenten Kenntnisse klären und deuten konnte.

Sobald der rauhe Nord der Lüfte Reich verlieret
Und ein belebter Saft in alle Wesen dringt,
Wann sich der Erde Schoß mit neuem Schmucke zieret,
Den ihr ein holder West auf lauen Flügeln bringt,
Sobald flieht auch das Volk aus den verhaßten Gründen,
Woraus noch kaum der Schnee mit trüben Strömen fließt,
Und eilt den Alpen zu, das erste Gras zu finden,
Wo kaum noch durch das Eis der Kräuter Spitze sprießt;
Das Vieh verläßt den Stall und grüßt den Berg mit Freuden,
Den Frühling und Natur zu seinem Nutzen kleiden

22 Das Brown-Séquard-Syndrom

Es handelt sich um einen Symptomenkomplex (also um ein sog. „Syndrom“), der bei einer halbseitigen Schädigung des RM auftritt, wobei es zu sog. dissoziierten* Sensibilitätsstörungenund Paresen (Lähmungen) kommt. Es wurde erstmals um 1850 von dem Neurologen Charles-Édouard Brown-Séquard beschrieben und tritt meist bei einer Schädigung des RM auf, z.B. bei Gefäßverschlüssen, aber auch bei Tumoren im Wirbelkanal.

Aufsteigende (rechts eingezeichnet, blau) und absteigende (links eingezeichnet, rot) Bahnen der weißen Substanz

Brown-Séquard-Syndrom bei linksseitiger Halbläsion (von vorne gesehen): sensible Nervenbahnen blau, motorische rot eingezeichnet.

Hintergrund & Insiderwissen

Da das RM sowohl aus absteigenden motorischen als auch aus aufsteigenden sensiblen Nervenbahnen besteht, die teilweise auf die jeweils andere Seite des Marks wechseln (kreuzen), resultiert bei lediglich halbseitiger Läsion des RM im Gegensatz zur totalen Querschnittlähmung (QSL) ein scheinbar diffuses Krankheitsbild: während es auf der Körperhälfte, auf deren Seite die Läsion im RM liegt (ipsilateral), zu einer Lähmung der Willkürmuskulatur und einer Beeinträchtigung der Fein- und Tiefensensibilität kommt, treten auf der anderen Seite (kontralateral) Störungen der Schmerz-, Temperatur- und Druckwahrnehmung auf.

Die sensiblen Afferenzen für die Grob-Wahrnehmung (protopathische Sensibilität -> Schmerz-, Temperatur- und Druckempfindung) treten durch die Hinterwurzel in das RM ein und kreuzen noch im gleichen Segment auf die andere Seite (kontralateral). Von hier verlaufen sie als Tractus spino-thalamicus, bestehend aus einem seitlichen und einem vorderen Trakt, zum Thalamus und von dort nach Umschaltung weiter zum sensiblen Gebiet der Großhirnrinde (Cortex).

Die sensiblen Afferenzen zur Vermittlung der Fein-Wahrnehmung (epikritische Sensibilität -> Fein- und Tiefensensibilität) steigen dagegen im Hinterstrang (Funiculus dorsalis bzw. posterior), bestehend aus Fasciculus gracilis und Fasciculus cuneatus von der Hinterwurzel auf der gleichen Seite (ipsilateral) des RM zum Gehirn auf und kreuzen erst im Bereich des verlängerten Marks (MO) auf die andere Seite.

Auch die KH-Seitenstränge – bestehend aus den Tractus spino-cerebellares posterior und anterior – kreuzen nicht, sondern steigen ebenfalls gleichseitig zum KH auf. Der Tractus spino-cerebellaris posterior leitet dabei überwiegend propriozeptive Impulse, also solche der Eigenwahrnehmung, der Tractus spino-cerebellaris anterior sowohl proprio- als auch exterozeptive, also solche der Außenwahrnehmung, der Lokalisation und Qualität einer Tastempfindung.

Zwischen 70 und 90 % der Nervenfasern der für die Feinmotorik zuständigen Pyramidenbahn (Betz, s.d.) kreuzen bereits vor dem RM im verlängerten Mark (MO) und steigen dann im Seitenstrang als Tractus cortico-spinalis lateralis ab. Die restlichen Fasern steigen ipsilateral im Vorderstrang als Tractus cortico-spinalis anterior ab und kreuzen entweder gar nicht oder erst auf Endigungshöhe. Ebenfalls ipsilateral steigen die für gröbere Bewegungsabläufe verantwortlichen Extrapyramidalbahnen gleichwohl wie vegetative Bahnen ab.

Klinische Bedeutung (Folgen einer Halbseitenläsion)

Eine halbseitige Durchtrennung bzw. Schädigung des RM hat die Unterbrechung vieler Nervenstränge, kreuzender wie nicht kreuzender, zur Folge, wodurch es zu neurologischen Ausfällen auf beiden Seiten kommt. Da der Tractus spino-thalamicus kreuzt, bevor er aufsteigt, tritt kontralateral (auf der gegenüberliegenden Körperseite) zur Läsion und ab dieser abwärts eine Störung der Grobwahrnehmung auf: Schmerz-, Temperatur- und Druckempfindung sind gestört. Da sowohl der Hinterstrang (Funiculus dorsalis bzw. posterior) als auch die KH-Seitenstränge vor dem Aufsteigen nicht kreuzen, tritt ipsilateral (auf derselben Körperseite) zur Läsion und ab dieser abwärts eine Störung der Tiefensensibilität und ein Verlust der Vibrationsempfindung auf. Zudem tritt eine kleine anästhetische Zone ipsilateral zur Läsion und knapp über dieser gelegen auf, was auf die Zerstörung der Hinterwurzel-Eintrittszone auf Läsionshöhe zurückgeführt wird.

Durch die Durchtrennung der motorischen Bahnen (Pyramidenbahn, extrapyramidale Bahnen) kommt es ipsilateral vom Ort der Schädigung abwärts zu einer spastischen Parese. Im betroffenen Segment ist (und bleibt) die Parese jedoch schlaff, da hier die motorischen Vorderhornzellen selbst in die Läsion einbezogen sind. Auf der geschädigten Seite kann eine Hyperästhesie bestehen, bei der bereits eine leichte Berührung als Schmerz empfunden wird (Hyperalgesie). Sie soll dadurch bedingt sein, dass die protopathische Sensibilität ipsilateral bei gleichzeitigem Verlust der epikritischen Sensibilität erhalten bleibt. Darüber hinaus kommt es anfangs auf Grund der Schädigung zentraler Sympathikusbahnen, die im Seitenstrang absteigen, ipsilateral zur Erweiterung der Blutgefäße, anfangs rötet und überwärmt sich die Haut, später kühlt sie ab und färbt sich bläulich. Die Schweißproduktion im selben Areal ist vermindert oder erloschen.

Da vegetative Bahnen beidseitig absteigen, kommt es bei einem reinen Brown-Séquard-Syndrom in der Regel nicht zu Störungen von Blase, Mastdarm oder Potenz. Eine Läsion auf der Höhe des zerviko-thorakalen Übergangs (C7/T1) führt zusätzlich zu einem ipsilateralen Horner-Syndrom.

Der Sensibilitätsverlust betrifft homolateral sämtliche Dermatome abwärts des geschädigten RM-Segments.

Symtome des BrownSéquard-Syndroms
Ipsilateral (homolateral)Kontralateral
Segmentale schlaffe Parese mit Areflexie Kaudal (unterhalb) davon spastische Parese mit Hyper-reflexie und Pyramiden-bahnzeichen Störung der Tiefen-sensibilität Verlust der Vibrations-empfindung Kleine anästhetische Zone über der Läsion evtl. Hyperästhesie anfangs Blutgefäßerweiterung mit Überwärmung und Rötung, später Kälte und Zyanose der Haut sowie AnhidrosisStörung der Schmerzempfindung Störung des Temperatursinns Minderung der Berührungsempfindlichkeit

Das BSS in seiner reinen Form ist selten. Häufiger treten unvollständige Formen auf, oder aufgrund der häufigen Mitschädigung der anderen RM-Hälfte ist, statt der erwarteten Hemiparese eine Paraparese festzustellen. Zu den häufigeren Ursachen gehören Verletzungen, epi- oder subdurale Hämatome der RM-Häute, Bandscheibenvorfälle (BSV, BSP) im Halsmarkbereich oder lokale Tumoren bzw. Metastasen. Selten kann sich auch eine Spinalkanalstenose als BSS äußern.

Der Verschluss einer Sulkokommissural-Arterie (Abgänge aus der A. spinalis anterior, die jeweils nur eine Seite des vorderen RM versorgen), führt manchmal zu einem inkompletten BSS mit erhaltener epikritischer Sensibilität.

Diagnostik

Der Patient zeigt eine auf den ersten Blick diffus erscheinende Symptomatik: Die Körperhälfte auf Seite der Schädigung ist unterhalb der Läsion gelähmt und ihre Lageempfindung stark eingeschränkt– gleichzeitig fühlt er auf der scheinbar intakten Seite weder Schmerz noch Temperatur.

Diagnostisch steht eine neurologische Untersuchung mit entsprechender Prüfung der Motorik und der Sensibilität (Temperatursinn, Oberflächen- und Tiefensensibilität) im Mittelpunkt. Zur lokalisatorischen Feststellung der Läsionshöhe orientiert man sich an der oberen Grenze des epikritischen Sensibilitätsausfalls („sensibler Spiegel“); die Begrenzung des Ausfalls der protopathischen Sensibilität hingegen ist unscharf, da diese Bahnen über mehrere Segmente hinweg kreuzen. Die segmentale schlaffe Parese kann maskiert sein, da benachbarte Spinalnerven in ihrem Versorgungsgebiet einen gewissen Überschneidungsbereich aufweisen – entscheidend ist hier die Ausdehnung der RM-Schädigung in kranio-kaudaler Richtung.

Wichtigstes bildgebendes Verfahren zur Feststellung von Ausmaß und Ursache der Läsion ist heute die Magnetresonanztomographie (MRT, MRI). Computertomographie (CT) und Röntgen (Rö, Rx) haben diesbezgl. Ihre Bedeutung verloren.  

Therapie

Wenn der Läsion eine Raumforderung (RF, z.B. ein Tumor oder eine Blutung), die auf das RM drückt, zu Grunde liegt, muss das RM durch eine operative Entfernung der RF entlastet werden. Tritt die Symptomatik akut auf und lässt sich eine mechanische RM-Kompression erkennen, so muss der Patient umgehend operiert werden.

NB: Auch wenn eine operative Entlastung des RM kaum eine Besserung der neurologischen Ausfälle mit sich bringt, erleichtert sie im weiteren Behandlungsverlauf die Remobilisation des Patienten und die Nachsorge im Allgemeinen, die Langzeitergebnisse sind besser und die Fähigkeit des Patienten, einen Rollstuhl zu benutzen, ebenfalls.

Charles-Édouard Brown-Séquard (Charles Edward Brown-Séquard)

(* 8. April 1817 in Port Louis, der Hauptstadt von Mauritius; † 2. April 1894 in Sceaux)

war ein britisch-franz.-amerikan. Arzt, Neurologe und Physiologe des 19. JH.

Charles-Édouard Brown-Séquard

Biographisches

Als Brite geboren (Mauritius war 1814 britisch geworden) war sein Vater, der noch vor seiner Geburt auf See verstarb, Amerikaner und seine Mutter Französin. Während seine Doktorarbeit 1846 noch unter dem Namen Brown veröffentlicht wurde, nannte er sich später Brown-Séquard, um seine Mutter zu ehren und sich von anderen Browns abzuheben.

1838 ging er nach Paris, um dort Schriftsteller zu werden, nahm jedoch nach nur mäßigem Erfolg ein Medizinstudium auf. Als 1843 seine Mutter, welche ihn nach Paris begleitet hatte, plötzlich verstarb, floh er „in einem Zustand starker Verwirrung“ zurück nach Mauritius. Da es dort keinen Platz für ihn gab, nahm er – mit geborgtem Geld – sein Studium in Paris wieder auf. Nachdem er dieses 1846 abgeschlossen hatte, kehrte er nochmals auf seine Heimatinsel Mauritius zurück, um dort als Arzt zu praktizieren, ging jedoch 1852 nach Amerika.

Anschließend kam er abermals nach Paris, bevor er 1859 nach London emigrierte, wo er als Arzt am National Hospital for Neurology and Neurosurgery („Nationalkrankenhaus für Neurologie und Neurochirurgie“) arbeitete, welches damals unter dem Namen „The National Hospital for Diseases of the Nervous System including Paralysis and Epilepsy“ gegründet worden war. Dort blieb er für etwa fünf Jahre, in denen er seine aufsehenerregenden Ansichten bezüglich der Pathologie des Nervensystems darlegte und großen Einfluss auf den jungen John Hughlings Jackson (einen der Mitbegründer der Epileptologie) ausübte.

Nachdem er in England mehr und mehr „zum Arbeitstier“ geworden sein soll (Wiki), floh er ein weiteres Mal, zuerst nach Paris. 1864 überquerte er wieder den Atlantik, diesmal war sein Ziel die Harvard University, an der er den Lehrstuhl für Physiologie und Neuropathologie angetragen bekam.

1867 gab er die Stelle in Harvard auf und wurde 1869 Professor an der Pariser École de Médecine, bevor er 1873 ein weiteres Mal in die USA zog, um in New York zu praktizieren. Letzten Endes kehrte er wieder nach Paris zurück und nahm die französische Staatsbürgerschaft an, um 1878 die Nachfolge des französischen Physiologen Claude Bernard (1813-1878) als Professor für Experimentalmedizin am Collège de France anzutreten, eine Stelle, die er bis zu seinem Tod 1894 innehatte.

Wissenschaftliches Werk

Brown-Séquard leistete wichtige Beiträge zur Erforschung des Blutes und des Nervensystems. Er war der erste Wissenschaftler, der die Physiologie des RM erarbeitete und er konnte zeigen, dass die Kreuzung der Nervenbahnen für Schmerz- und Temperaturempfindung im RM selbst stattfindet.

Nach ihm wurde der neurologische Symptomkomplex benannt, der bei einer Halbseitendurchtrennung des Rückenmarks auftritt: das Brown-Séquard-Syndrom.

Außer dem BS-Syndrom wurde nach Brown-Séquard auch benannt:

BS-Spinalepilepsie:

Es handelt sich dabei um pathologische Bewegungsmuster als spinale Reiz- und Enthemmungsphänomene bei RM-Schädigungen.

Außer mit dem RM beschäftigte sich BS auch mit der Endokrinologie* und er soll dabei gute Ergebnisse in der Behandlung von Myxödemen erzielt haben.

BS-Elixier

BS war Verfechter der (subkutanen) Verabreichung einer aus den Hoden frisch getöteter Hausmeerschweinchen und Hunde gewonnenen Flüssigkeit, sein sog. Liquide orchitique, die Langlebigkeit bescheren sollte – damit machte er sich genauso lächerlich wie Adamkiewicz mit seinem Kankroin (ebenfalls in den 1890er Jahren, s.d.), als er 1889 darüber berichtete, wie er sich selbst damit „verjüngt“ habe. Dieser Hodensaft wurde unter dem Namen Brown-Séquard-Elixier bekannt.

Vgl. Skandale um Adamkiewicz, Ehrlich und Koch

Siehe auch: Bell-Magendie, Rexed-Schichten, Renshaw-Zellen, Head-Zonen, Betz-Pyramidenzellen, Goll, Burdach, Rolando

Ehrungen & Auszeichnungen

1854 wurde er in die American Philosophical Society, 1861 in die Royal Society gewählt, 1867 in die American Academy of Arts and Sciences und 1868 in die National Academy of Sciences gewählt. Im Jahr 1886 wurde er zum Mitglied der Gelehrtenakademie Leopoldina (s.d.) gewählt.

National Hospital for Neurology and Neurosurgery; Quelle: Wiki

Quellen, Veröffentlichungen & Literatur

Seine über 500 Veröffentlichungen erschienen vor allem in den „Archives de physiologie normale et pathologique“, welche er 1868 zusammen mit Jean-Martin Charcot (1825-1893, einer der bedeutendsten Ärzte und Neurologen jener Zeit. 1882 etablierte er die erste eigenständige neurologische Abteilung in Europa.) und Edmé Félix Alfred Vulpian (1826-1887, ein weiterer bedeutendster Arzt und Neurologe…) gründete.

C.-E. Brown-Séquard: De la transmission croisée des impressions sensitives par la moelle épinière. In: Comptes rendus de la Société de biologie (1850)

Exkurs: Der Aufbau des RM